Augenblick der Ewigkeit - Leseprobe

Kuhländchen im Sommer 1914


       »Komm endlich von dem Baum runter!« Mit weit ausgebreiteten Armen flog er der Sonne entgegen, hoch über den Baumkronen des Obstwaldes. Sein Mund war leicht geöffnet, und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Sein Atem ging gleichmäßig, so unbeschwert konnte er fliegen, als er noch ein Kind war.

Von hier oben blickte er weit hinaus in die wellige Landschaft des Kuhländchens, das sich in einer fruchtbaren Senke zwischen den Ausläufern des Sudetengebirges im Nordwesten und dem Gebirgszug der Beskiden im Südosten erstreckte. Durch die  Wiesen, Äcker und grünen Hügel schlängelte sich, gesäumt von Weiden und Erlen, die junge Oder, und er konnte die Brücke sehen, unter der der Vater in der Nacht seinen Rausch ausgeschlafen hatte, bis er am frühen Morgen von einer ausgelassenen Hochzeitsgesellschaft geweckt worden war. Luftblaue Wälder standen am Horizont und gefleckte Kühe, die der Landschaft ihren Namen gaben, grasten im Dickicht des Weidengeflechts. Ein vielstimmiges Rauschen und Summen drang von dort wie Musik an sein Ohr, bis die Stimme des Vaters ihn abermals aus seinen Phantasien riß. »Karel, steig runter, sonst gehen wir ohne dich!«

Er schaute hinunter. Unter dem Birnbaum half der dicke Thomasch dem Vater die Reste der Brotzeit aufzuräumen. Der Vater hatte gegen die sengende Sonne den breitkrempigen Künstlerhut aufgesetzt, unter dem ihm die braunen Haarlocken bis auf den Stegkragen fielen. Über dem weißen Hemd mit den aufgerollten Ärmeln trug er eine schwarze offene Weste, die von einer goldenen Uhrenkette locker zusammengehalten wurde. Er faltete das karierte Leinentuch zusammen und legte es zu den Instrumenten, die sie brauchten für ihre Musik. Diesen Sommer durfte Karl zum ersten Mal mit dem Vater über die Dörfer ziehen und bei Bauerhochzeiten, Geburts- und Festtagen zum Tanz aufspielen.

Es war ein heißer Sommertag. Seit Wochen hatte es nicht mehr geregnet. Wind fuhr durch die Blätter der Obstbaumplantage und wirbelte den Staub auf der Straße auf.

Rasch kletterte er den Baum hinunter, hing mit beiden Armen am untersten Ast und ließ sich mit Schwung ins hohe Gras fallen. Eine Feldlerche stieg zwitschernd aus der Wiese hoch, und Wespen umsurrten die herabgefallenen fauligen Früchte. Er bückte sich, nahm eine reife Birne aus dem Gras, roch daran und steckte sie in seine Tasche. Er wollte schon den beiden Erwachsenen nachlaufen, die mit dem Karren ein gutes Stück Wegs voraus waren, da fiel ein Schatten auf ihn und er hörte über sich Vogelschreie, die klangen wie heiseres Gelächter.

Er blickte auf. Ein rostbrauner Wanderfalke stand rüttelnd am Himmel. Plötzlich zog er die Flügel hart an den Leib und stürzte sich wie ein Stein auf die Feldlerche, die aus der Wiese aufgestiegen war. Dicht über der Beute breitete er seine Schwingen aus. Die Lerche flatterte noch und versuchte sich loszureißen. Doch der Raubvogel hatte seine tödlichen Krallen in das Opfer geschlagen. Federn stoben, und die Beute hing leblos in seinen Fängen.


        Später, wenn er sich an diesen Zwischenfall erinnerte, kam er ihm vor wie ein Vorbote nicht nur des großen Unglücks, das an jenem Tag geschehen sollte, sondern auch des großen Sterbens, das mit dem Satz des greisen Herrschers, ›Ich habe alles reiflich erwogen‹, seinen Anfang nahm. Die Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Sarajevo lag erst ein paar Wochen zurück, und in Wien rüstete man zum Krieg. In den Garnisonen herrschte Tschingderassabum und Säbelgerassel: Man glaubte, der Krieg dauere nicht länger als ein paar Monate.

Seit Tagen war allgemeine Mobilmachung. Auf ihrem Weg nach Riedersdorf am Morgen waren sie durch die kleine Garnisonsstadt Fulnek gekommen. Vor dem Kriegerdenkmal auf dem Marktplatz hatte dort der Standortkommandant mit einer Militärkapelle die Parade der Soldaten abgenommen. Eine große Menschenmenge jubelte dem ausrückenden Regiment auf seinem Marsch zum Bahnhof zu. Neugierig hatten sie sich unter die Zuschauer gemischt und der Blaskapelle zugeschaut, die von einem Tambourmajor kommandiert wurde, der seinen Kommandostab übermütig in die Luft schleuderte und wieder auffing. Während des Vorbeimarschs intonierte die Kapelle ein Bläserstück mit einem effektvollen Trompetensolo, dessen Echo von einem zweiten Trompeter in gemessener Entfernung geblasen wurde.

Sein Vater, kaum dreißig Jahre alt, ein böhmischer Musikant und Geigenbauer, der in Karlsbad in die Musikalienhandlung seines Schwiegervaters eingeheiratet hatte, war ein lebenslustiger Mensch, leichtsinnig und zu Späßen aufgelegt. Der Großvater schimpfte ihn einen Lumpazi, einen Walzbruder und Strabanzer, der sich lieber auf den Tanzdielen und in den Schlupfwinkeln der Liederlichkeit herumtreibe, als zu Hause im Geschäft zu helfen.

Mit einem verschmitzten Lächeln hatte der Vater Thomasch mit dem Eselskarren vorausgeschickt und sich mit Karl auf dem Friedhof hinter der Kirche versteckt, gerade in dem Moment, als der Tambourmajor den Einsatz gab. Die Bläser setzten ein. Das Posthorn erklang, und von allen erwartet kam auch das Echo. Die Militärkapelle bereitete sich auf ihren Einsatz vor, der dem Echo folgen sollte. Da ertönte, oh Wunder, ein weiteres, noch viel schöner geblasenes Echo vom Friedhof her.

Verblüfft ließ der Tambourmajor seinen Baton fallen, der Einsatz war verpatzt, und die Marschkolonnen kamen aus dem Tritt. Der Standortkommandant biß wütend auf seinen Schnurrbart. Da er nirgendwo den Übeltäter entdecken konnte, schnauzte er den Tambourmajor an, noch einmal von vorne anzufangen. Während das Posthorn erneut erklang, spähte er erwartungsvoll in alle Richtungen. Doch dann, das Echo war kaum verklungen und die Bläser wollten wieder einsetzen, erklang abermals das Echo des Echos, nur diesmal eine halbe Oktave höher. Die Zuschauer lachten.

Als Karl und der Vater mit der Trompete in der Hand hinter der Kirchenmauer hervorkamen, drohte ihnen der Tambourmajor mit seinem knüppeldicken Taktstock, und der Standortkommandant brüllte etwas von Majestätsbeleidigung und Landesverrat und hetzte seine Soldaten hinter ihnen her. Das Publikum jedoch applaudierte und sorgte dafür, daß die beiden Spaßvögel unbehelligt in der Menge untertauchen und entkommen konnten.

So kamen sie glücklich aus der Stadt heraus. Der Vater schob den Hut schräg über ein Auge und lachte, daß in seinem gebräunten Gesicht die weißen Zähne wie Lichter blitzten. Dann nahm er die Geige aus dem Kasten und spielte eine bald lustige, bald melancholische Mährische Tanzweise, während er und Karl dazu mit Dreier- und Zweierschritten über die Landstraße tanzten.

Der Himmel wölbte sich wie blaue Seide über dem Land, und obgleich Sonntag war, wurde auf den Feldern gearbeitet. Die Ernte mußte rechtzeitig in die Scheuer gebracht werden, denn es drohten Unwetter am Abend. Die Knechte und Mägde winkten den Musikanten zu und riefen, wie sehr sie sich auf das Tanzvergnügen freuten, am Nachmittag in Pettermanns Gasthaus.


       »Karel, warum kommst du denn nicht?« Die Stimme des Vaters klang ungehalten. Karl reagierte nicht. Wie gebannt schaute er dem Raubvogel bei seiner blutigen Mahlzeit zu, der, ohne sich von ihm stören zu lassen, die Beute kröpfte. Sein scharfer Schnabel hackte in den Leib der Lerche und riß gierig kleine Fleischfetzen heraus. Die Federn flogen nur so, und seine Fänge färbten sich rot. Karl war wie verhext von seiner Wildheit und dem glänzenden Gefieder. Vorsichtig versuchte er sich ihm zu nähern. Der Falke äugte neugierig zu ihm hin. Als Karl nahe genug an ihn herangekommen war, streckte er die Hand aus und strich ihm über den Rücken. Der Vogel duckte sich leicht und ließ ihn gewähren.

»Karel?« Besorgt war der Vater zurückgekommen. »Paß auf, deine Hand!«

»Aber sieh doch, Papa. Er tut mir nichts!«

»Vielleicht ist er abgerichtet und seinem Besitzer davongeflogen.«

»Wie schön er ist! Ich würde ihn so gern mitnehmen.«

In diesem Moment ertönte ein Pfiff und zwei Reiter preschten die Wiese herauf. Der eine war ein wilder Knabe auf einem Haflinger, mit braun gebranntem Gesicht, weißen Hosen und nackten Füßen, nicht älter als zehn vielleicht. Neben ihm ritt ein kleines Mädchen auf einem Pony. Es reckte, während es über die Wiese jagte, den Arm in die Luft und juchzte: »Papageno!«

Im Nu flog der Falke auf und landete auf seinem Lederhandschuh. Der Junge zügelte sein Pferd und grüßte höflich. »Sie brauchen keine Angst zu haben. Er hatte einen Flügel gebrochen, als er jung war, und wir haben ihn wieder gesund gepflegt. Er ist handzahm, aber manchmal benimmt er sich wie ein Rabauke. Ich hoffe, Sie hatten keine Scherereien mit ihm.«

Der Vater zog den Künstlerhut und verbeugte sich artig vor dem jungen Herrn. »Nein, nein, mein Sohn hat sogar versucht, ihn zu streicheln.«

Das Mädchen stülpte dem Vogel eine Lederkappe über die Augen und lachte. »Manchmal kann Papageno ziemlich zutraulich sein.«

Während der Junge sich als Sohn des Freiherrn von Deutz vorstellte, Eigentümer der Felder und Obstplantage, und den Vater nach Weg und Ziel fragte, hatte Karl nur Augen für das Mädchen, das hoch aufgerichtet auf dem Rücken des Ponys saß, auf der Faust dieses geheimnisvolle, rostbraune Tier. Es trug ein weißes, mit Spitzen besetztes Leinenkleid, unter dem die braunen, in roten Stiefeln steckenden Beine hervorsahen. Um den Hals hatte es sich eine rote Schleife gebunden, und auf seinem dunklen Haaren saß ein Strohhütchen mit flatternden bunten Bändern, von denen einige für den wilden Ritt am Kinn zusammengeknotet waren. Unter der Hutkrempe glänzten dunkle, lang bewimperte Augen und musterten ihn von Kopf bis Fuß. Von seinem geheimnisvollen Zauber angerührt, lächelte  Karl verlegen. Das Mädchen lächelte zurück. Er holte die Birne, die er aus dem Gras geklaubt hatte, aus der Tasche und hielt sie ihm hin. »Willst du?«

Das Mädchen zögerte. Dann griff es mit der freien Hand nach der Frucht. Ohne ein Wort des Dankes wendete es sein Pony und stürmte mit dem Vogel auf der Faust die Wiese hinunter. Von einer merkwürdigen Unruhe ergriffen, schaute Karl dem Mädchen nach, so daß der Vater ihm die Hand auf die Schulter legte.

Der Junge verabschiedete sich artig. »Und wo spielen Sie heute zum Tanz auf?«

»Ab fünf Uhr, in Pettermanns Gasthaus drüben in Riedersdorf.«

»Das ist ja nicht weit vom Gut. Wir kommen pünktlich!«

Er riß sein Pferd herum und jagte dem Mädchen hinterher. »He, – so warte doch auf mich!«

Karl sah, wie er es bald eingeholt hatte und die Kinder aufjauchzend die Straße hinunter galoppierten. In wildem Verlangen nach ihrer Ungebundenheit wäre er ihnen am liebsten nachgelaufen, wenn die behutsame Hand des Vaters ihn nicht zurückgehalten hätte.

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